Aufstehen, sich einmischen, Verantwortung übernehmen!

Am Montag gab es in unserer Aula einen interessanten und berührenden Vortrag von Irene Stern-Frielich aus den USA.  
Irene lebt mit ihrer Familie in Sharon, Massachussets. Dies liegt nur 7 km von Canton entfernt, mit dessen High School das St.-Georg-Gymnasium ja bekanntlich eine über 40-jährige Partnerschaft verbindet.
Dies fand Irene erst dann heraus, als sie sich auf Spurensuche nach ihren jüdischen Wurzeln nach Bocholt begab. Ihr Vater Walter Stern überlebte mit seiner Mutter und Großmutter die Pogromnacht in Bocholt und den Holocaust in einem Versteck in den Niederlanden. Er wanderte nach Kriegsende in die USA aus.
 Durch ein Kinderphoto ihres Vaters vor dem Haupteingang des Georgs an der Herzogstraße wurde sie bei ihrem Besuch in Bocholt auf unsere Schule aufmerksam. 
Ihre Vermutung, ihr Vater habe möglicherweise in seiner Kindheit unsere Schule besucht, bestätigte sich nach ausgiebiger Suche im Archiv zwar nicht, jedoch traf Irene auf eine engagierte Geschichtslehrerin, die ihr die Schule, das Museum und die langjährige  Verbindung zu Canton erläuterte. Mit ihr verbindet sie bis heute eine tiefe Freundschaft, weitere gegenseitige Besuche haben inzwischen stattgefunden.  

Irene Stern-Frielich war gemeinsam mit ihren Söhnen bei uns am Georgs zu Gast und hat die Geschichte ihres Vaters unseren Schüler*innen der Jahrgangsstufen 10-Q2 sowie weiteren interessierten Gästen auch aus den Niederlanden nahegebracht. Durch Fotografien und Tondokumente ihres Vaters sowie weiteren Erinnerungsstücken wie dem Davidstern des Vaters wurde ihr Vortrag anschaulich und berührte die Zuhörerschaft sehr. Besonderes Anliegen war es ihr auch, diejenigen Menschen, die ihrer Familie halfen, namentlich zu benennen und herauszustellen und damit die große Bedeutung von Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft in herausfordernden Zeiten zu betonen.   

„Mein Vater hat kaum über die gewaltsamen Ereignisse im November 1938 gesprochen, die Bezeichnung posttraumatische Belastungsstörung existierte noch nicht.“  

Es ist Mittwoch, der 9. November 1938, Walter freut sich auf seinen 12. Geburtstag am morgigen Donnerstag, es sind bereits Gäste der Familie im Haus an der Nordstraße in Bocholt, Ecke Nobelstraße, in der heutigen Fußgängerzone. Walter geht wie die anderen irgendwann zu Bett, doch plötzlich gibt es Geschrei und laute Geräusche auf der Straße, sein Vater Moritz Stern drängt die Familie auf den Dachboden des Geschäftshauses, einer nach dem anderen zwängt sich durch ein Fenster auf das Dach des Hauses, um von dort zu einer kleinen Plattform hinab zu rutschen. Hier werden sie Ohrenzeugen der Verwüstungen ihres eigenen Bekleidungsgeschäftes durch Nazitruppen: Braunhemden zertrümmern die Schaufenster, reißen Anzüge von den Kleiderständern und schlagen alles kurz und klein. Als das Wüten nach einiger Zeit langsam abklingt, ruft Walters Vater Moritz Stern den Nachbarn, den Kaffeeröster Imping zu Hilfe, der sie schließlich mit einer langen Leiter vom Dach holt und sie bis zum Donnerstagvormittag vor den Nazis versteckt. Ein Auto bringt die Familie dann vorbei an den in Scherben liegenden Schaufensterfassaden in die (noch) sicheren Niederlande. Damit hat eine Odyssee der Familie Stern Herzfeld begonnen, die erst am 5. Mai 1945, dem Tag der Befreiung der Niederlande endet und die lediglich zwei Familienmitglieder überleben werden.   

Frau Stern Frielich beschreibt, wie Walters Vater Moritz Stern und sein Onkel Kurt Herzfeld verhaftet und 1942 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet werden, wie seine Oma Selma Herzfeld nach 900 Tagen in ihrem Versteck einen Tag vor dem offiziellen Kriegsende am 7.5.1945 verstirbt und wie lediglich er und seine Mutter Hilde Stern diese zweieinhalb Jahre auf dem Dachboden eines niederländischen Bauernhofes bei Haaksbergen versteckt überleben und dann 1947 in die USA auswandern. Einigen aufrechten Menschen in Bocholt und besonders in den Niederlanden, deren Gewissen sie geleitet hat, das Richtige zu tun, habe sie, Irene, es zu verdanken, dass sie heute in der Lage sei, ihr Leben zu leben und mit ihren Besuchen (auch) im deutschen Bocholt ihre eigene Perspektive auf das Geschehene immer wieder anzupassen.   

An uns allen sei es heute, in Zeiten von Bedrängnis und der Rückkehr längst überwunden geglaubter Feindbilder, aufzustehen, sich einzumischen und Verantwortung zu übernehmen für unser Zusammenleben. Viele der Zuhörenden sind deutlich bewegt von Walters Geschichte, die sich vor so vielen Jahren mitten unter uns in Bocholt abgespielt hat.  

Text: M. Wobben