Abiturientia 2022

Ihr alle habt Euer Abi in der Tasche! Allein diese Tatsache dürfte bereits einen großen Applaus aller hier Anwesenden wert sein!

Ihr alle habt zusammen mit Euren Eltern sowie euren Lehrerinnen und Lehrern maßgeblich dazu beigetragen, dass wir den heutigen Tag als einen besonderen Festtag begehen können – und wir alle sollten besonders dankbar sein, dass wir diesen bedeutsamen Tag, der sowohl das Ende als auch den Anfang eines Lebensabschnittes markiert, in dieser Form feiern dürfen. Noch vor wenigen Monaten wäre unser heutiges Zusammentreffen nahezu undenkbar gewesen.

Corona hat auch Euren Weg bis zur Abiturprüfung in ganz besonderem Maße geprägt: Wer sich ein Bild von all dem, was es an Beeinträchtigungen zu erleben gab, machen möchte, der könnte einen Blick in die Unmengen an Nachrichten werfen, die euch als Schülerinnen und Schüler, Sie als Eltern und das Kollegium im Laufe der letzten zwei Jahre erreicht, gelesen und umgesetzt haben – Distanzunterricht, Wechselunterricht, Hybridunterricht, Tests, Hygiene-Pläne, dazu Sport ja, Sport nein, Sport nur draußen, Musik ja, aber ohne Singen, Musicalaufführungen ja und nein, Fahrten und Exkursionen, die gestrichen werden mussten.
Ich könnte nahezu unendlich fortfahren. Insgesamt hielten gänzlich neue Kommunikations- und Lernformate Einzug in den Schulalltag: microsoft teams, GoodNotes, Padlets und Co. kannten die meisten, wenn überhaupt, bis dahin nur vom Hörensagen –in diesem Jahr wurden sie bzw. eine von ihnen sogar zu eurem Abimotto: Nie ohne mein teams! Wobei ich vermute, dass ihr damit sowohl die Kommunikationsplattform als auch die zwischenmenschliche Komponente gemeint habt.

(…) Dass Ihr, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, mit Blick auf Eure Prüfungen all diesen Unwägbarkeiten mit einer besonders ausgeprägten Disziplin und einer gehörigen Portion Pragmatismus begegnet seid, nötigt uns allen allergrößten Respekt ab und führt uns eindrucksvoll vor Augen, was Euren Jahrgang in besonderem Maße auszeichnet. Ihr habt es geschafft, in einer Gemeinschaftsaktion – quasi als team(s) – mit Euren Eltern und Euren Lehrerinnen und Lehrern Eure Schulzeit unter besonderen Bedingungen erfolgreich zum Abschluss zu bringen. Dafür ist Euch besondere Anerkennung zu zollen! Sollten auch in Zukunft Stimmen laut werden, die – aus welchen Motiven auch immer – einen „Coronabonus“ propagieren oder in despektierlichem Sinne von einem „Coronaabitur“ sprechen, so begegnet dem bitte mit allergrößter Gelassenheit. Doch nicht nur das: Man mag es zwar kaum glauben, aber Ihr habt aus dieser Krise einen enormen immateriellen Reichtum erworben – Erfahrungen, die Euch als mündige Menschen beflügeln werden: dessen sind wir uns ganz sicher!

Heute sage ich mit aller Berechtigung und aus voller Überzeugung: Die vergangenen zwei Jahre waren KEINE verlorenen Jahre! Dieser Jahrgang ist KEIN verlorener Jahrgang! Dieser Jahrgang, Ihr, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, hat -zusammen mit dem aus dem letzten Jahr – mehr leisten und, sagen wir’s ruhig, aushalten müssen als z. B. ich selbst und viele der anderen Anwesenden. Ihr habt das richtig gut gemacht! (…)

„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, lehrte uns bereits vor rund 250 Jahren Immanuel Kant. Diese Grundhaltung ist letzten Endes auch eine, wenn nicht sogar die wesentliche Basis unserer freiheitlichen, pluralistischen, lebendigen Demokratie, die, so wissen wir auch mit Blick auf gerade in Zeiten der Pandemie aufkeimende populistische Stimmen, nicht Gott gegeben ist, nicht per Rezept verordnet werden kann, sondern täglich neu erkämpft werden muss. Rita Süssmuth, Bundesministerin in der Ära Kohl und für fast zehn Jahre Präsidentin des Deutschen Bundestages, greift diese Gedanken in ihrem Büchlein mit dem einprägsamen Titel „Überlasst die Welt nicht den Wahnsinnigen“ in beeindruckender, klarer Weise auf. Der ursprünglich von der heute 85-Jährigen an ihre Enkel gerichtete Brief wendet sich mit seiner Veröffentlichung an die gesamte „junge Generation“, zu der wir uns – aus der Perspektive Süssmuths – allesamt zählen dürften. Daher möchte ich (…) Rita Süssmuth zu Wort kommen lassen. Worte, denen ich mich von ganzem Herzen anschließen kann:

„Meine Bitte an Euch: Gebt Euch zu erkennen! Zeigt Euch als Persönlichkeiten, die Ihr schon lange seid – und immer ausgeprägter sein werdet! Denn erstens habt Ihr es nicht nötig, Euch zu verstellen. Und zweitens verbarrikadiert das Verstellen Euch den Weg zu Eurem Gegenüber, zu neuen Sichtweisen und Entdeckungen, dem, was man Glück nennt. […] Seid gerade, klar und kraftvoll, versteckt Euch nicht, wann immer es möglich ist. Das ist befreiender, macht Euch und andere glücklich. Dazu gehört, den Mut zu haben, sich dem Mainstream, der Mehrheitsmeinung, zu entziehen. Es mag ja ganz bequem und dazu einfach sein, sich der Mehrheit ohne großes Nachdenken anzuschließen, weil man mit dem Strom unbehelligt mitschwimmen kann. Doch nur tote Fische schwimmen mit dem Strom. Deshalb haltet Abstand von Camouflage, Schminke und Prestigeobjekten. Seid nicht Herde, seid nicht Leithammel – seid Menschen mit Herz und Verstand, die ihre Autarkie [also ihre geistige Unabhängigkeit] bewahren oder zumindest trotz allem immer weiter daran arbeiten.“ Soweit Rita Süssmuth.

Überlasst die Entscheidung über euer Leben und über unser Leben nicht einfach anderen. “Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist, es wär’ nur deine Schuld, wenn sie so bleibt!”, sangen einst Die Ärzte. Tretet gerade in diesen Zeiten denjenigen, die bewusst inszenierte, angstschürende Parolen verbreiten, entschlossen entgegen! Euer Herz und Verstand dürften bzw. sollten um ein Vielfaches stärker sein! Seid Euch Eurer Stärken selbst bewusst und damit selbstbewusst und verändert die Welt dort, wo es nötig ist!

Text:  Hilke Smidt
Fotos: Gesina Grunden